Psychologin Tabea Freitag
«So viele leiden heimlich unter ihrem pornografischen Kopfkino»
Sie wird als Hauptreferentin an der «Porno-frei.ch»-Konferenz vom 23. November 2019 in Aarau auftreten: Tabea Freitag. Sie ist bekannt als Autorin des Praxisbuchs «Fit for Love», das präventive Praxistools zum Schutz von Pornografie an die Hand gibt. Wichtig sei, dass Pornografie auf gesichtswahrende und wertschätzende Weise thematisiert wird, sagt sie im Livenet-Interview.
Livenet: Tabea Freitag, im Herbst werden Sie als Gastreferentin an der Konferenz «Porno-frei.ch» in Aarau auftreten. Was erhoffen Sie sich von dieser Tagung in der Schweiz?
Tabea Freitag: Ich teile und unterstütze gerne das Anliegen der Initiatoren, die zum Teil selbst Hilfe in diesem Problemfeld anbieten, für die Folgen von Pornosucht zu sensibilisieren. Denn solange das Thema tabu ist und die Folgen verschwiegen werden, bleiben viele Betroffene und Angehörige damit allein. Zahlreiche Partnerschaften zerrütten oder zerbrechen an dieser Sucht. Durch Prävention und Intervention könnte manches Leid erspart bleiben.
Vor fünf Jahren erhielten Sie den deutschen Gesundheitspreis einer grossen Krankenkasse für Ihr Buch «Fit for Love?» überreicht. In diesem Buch befassen Sie sich besonders mit den schädlichen Folgen von Pornokonsum und präventiven Praxistools. Wo liegen denn die grössten Risiken beim Pornokonsum?
Zunächst einmal prägt früher Pornokonsum ein Verständnis von Sexualität, das diese auf eindimensionale Erregungssuche und narzisstische Bedürfnisbefriedigung reduziert. Empathie und Wertschätzung des anderen werden ebenso ausgeklammert wie die Bindungsdimension von Sexualität. Es bleibt eine Leere zurück, die vielfach nach immer härteren Inhalten suchen lässt, um noch einen Kick zu erleben. Brutale Gewalt und Demütigung von Frauen ist fester Bestandteil frei zugänglicher Mainstream-Pornografie. Internationale Studien und therapeutische Erfahrungen zeigen vor allem drei Folgen von häufigem Pornokonsum: eine hohe Suchtgefährdung, die Förderung von sexueller Gewalt und eine Beeinträchtigung der Beziehungsfähigkeit.
Ihr Ziel mit dem Buch resp. Schulungsmaterial ist ja, das Thema ins Bewusstsein von Eltern, Lehrkräften und Erziehenden zu bringen. Wie gelingt das bisher?
Die Nachfrage sowohl nach dem Buch wie nach «Fit for Love?»-Schulungen ist weiterhin gross und nimmt eher noch zu, da inzwischen das Bewusstsein schädlicher Folgen von frühem Pornokonsum – zumindest bei pädagogischen Fachkräften – gewachsen ist.
Inzwischen haben vielfach schon 9-Jährige ein internetfähiges Smartphone und damit Zugang zu einschlägigen Seiten. Die Vorfälle von sexuellen Übergriffen unter Minderjährigen nach Pornokonsum nehmen zu und können nicht mehr so leicht verschwiegen und verharmlost werden wie noch vor fünf Jahren. Auf der anderen Seite nimmt aber eben auch die immer frühere und flächendeckendere Digitalisierung zu (insbesondere von Schulen) und verschärft das Problem weiter. Hier besteht dringender Handlungsbedarf.
Selbst die WHO hält in den neusten Richtlinien fest, dass Internetsexsucht gesundheitsschädigend sei. Ist diese internationale Anerkennung des Problems für Sie eine Hilfe in Ihren Bemühungen?
Das ist ein Meilenstein und Durchbruch, der Betroffenen endlich auch den Zugang zu ambulanter und stationärer Behandlung ermöglichen wird. Ende Mai 2019 hat die WHO die Aufnahme der Diagnose «compulsive sexual behaviour disorder» in das internationale Diagnosemanual ICD 11 beschlossen. Mit den klassischen Suchtkriterien fällt darunter auch die Internet-Sexsucht. Die Notwendigkeit der Suchtprävention bezüglich des Suchtmittels Pornografie kann nun nicht länger geleugnet werden.
Christen sind ja ebenfalls nicht vor dieser Falle der Internetsucht gefeit. Man hört und liest von Statistiken, dass auch viele Christen mit der Pornosucht zu kämpfen haben. Würden Sie mit Ihrem Hintergrund in der Beratung sagen, dass Christen eher von dieser Sucht frei werden können?
Das hängt vom persönlichen Glaubensleben und Gottesbild ab, ob der Glaube eher Hilfe zum Ausstieg oder sogar Stütze der Sucht sein kann. Wenn jemand 20 Jahre lang sowohl von Gott wie von der Partnerin erwartet, dass beide ja «eh vergeben» (müssen), kann das verhindern, endlich Verantwortung für sich und für die Verletzung des betrogenen Partners zu übernehmen. Andererseits, wer ernst nimmt und persönlich erlebt hat, dass Gott Licht und Wahrheit ist, zugleich barmherzig und gerecht, kann und will damit ins Licht kommen, ehrlich werden und lieben lernen. Zudem weiss er um eine lebendige Quelle, die den Lebensdurst tiefer und nachhaltiger stillen kann. Die Schritte aus der Sucht müssen trotzdem gegangen werden.
Was empfehlen Sie den Gemeindeleitungen und Pastoren, wie Sie das Thema «Pornosucht» thematisieren sollen?
Vor allem: thematisieren! So viele Kinder, Jugendliche und Erwachsene leiden heimlich unter der Macht der Bilder und ihrem pornografischen Kopfkino, finden aber keinen Ansatz, darüber zu reden und sich Hilfe zu holen. Darum müssen wir ihnen Brücken bauen – auf gesichtswahrende, wertschätzende Weise Pornografie zum Thema machen. In der Prävention erleben wir oft, dass coole Teenager sich bedanken, dass endlich jemand das Thema anspricht und ihnen hilft, die ambivalenten Gefühle und den ungeheuren Sog zu verstehen und eine eigene, begründete Position dazu zu entwickeln. Dazu hilft auch, Sexualität in ihrem Sinnzusammenhang, ihrer körperlichen, psychischen und Bindungsdimension zu verstehen, um sich eine eigene Entdeckungsreise zu Liebe und Sexualität nicht durch vorgefertigte Schablonen stehlen zu lassen. Natürlich sollte es Thema in jedem Jugendkreis sein, aber auch bisweilen in herausfordernden Predigten. Zudem braucht es geschützte Räume wie Männer- und Frauengruppen, Seelsorge und Zweierschaften. Auch Frauen sind zunehmend betroffen von einer Porno- oder Cybersexsucht, oder sie leiden als Partnerin unter den Folgen, darum ist es wichtig, nicht nur Männer anzusprechen.